Vasall Kleineuropa

Ein Stellvertreterkrieg der USA gegen Russland. Mit Deutschland als ökonomischem Verlierer.

Der Schock eines Kriegsbeginns bewirkt auf der Linken fast immer Verwirrung und Sprachlosigkeit. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass, wer nach Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine das weitgehende Schweigen linker Friedensbewegungen in Europa beklagt, zwar zurecht, hat aber wenig von der realen Situation verstanden.

Beispielsweise fanden in der Woche vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs allein in Deutschland mehr als 250 Kundgebungen mit insgesamt fünf- bis siebenhunderttausend Teilnehmern gegen die drohende Kriegsgefahr statt, aber nach Kriegsausbruch schlug die Stimmung in der Bevölkerung binnen Tagen in eine allgemeine Kriegsbegeisterung um, und es war nur noch von Vaterlandsverteidigung die Rede, vor allem vom Sieg gegen Franzosen, Briten, Russen und Serben. Am 4. August stimmten im Reichstag alle Fraktionen geschlossen für die Bewilligung der Kriegskredite, einschließlich der Sozialdemokratie. Das Diktum von Kaiser Wilhelm II., er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur noch Deutsche, ging in Erfüllung. Die revolutionäre Linke war paralysiert, und es dauerte bis zum 10. September, bis vier von ihnen (Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg, Franz Mehring und Clara Zetkin) eine Erklärung ver-fassten, dass ihr Standpunkt zwar dem parteioffiziellen der SPD „nicht entspricht“, aber: „Der Belagerungszustand macht es uns vorläufig unmöglich, unsere Auffassung öffentlich zu vertreten“ – eine Erklärung, die erst am 30. Oktober im neutralen Ausland publiziert werden konnte.

In seinem Vierteljahresbericht vom 5. Februar 1926 meinte der sowjetische, aus Ungarn gebürtige Ökonom Eugen (Jen  ̃o) Varga zur Zukunft Europas: „Der Kampf um die Eroberung der Macht durch das Proletariat … kommt in Gang. Endet er nicht mit einem Sieg des Proletariats, …so kann er mit einer Vernichtung der »überflüssigen« Produktionsmittel und der Vernichtung der »überflüssigen« Menschen durch Krieg, Hungersnot und Seuchen enden, und auf dieser Grundlage kann dann für Europa – als ein Anhängsel Amerikas – eventuell ein neuer Aufbau des Kapitalismus stattfinden.“

Das war kurzfristig viel zu optimistisch gedacht und im Einzelnen falsch, aber langfristig durchaus richtig und ungemein hellsichtig. In der Tat erlebte Westeuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einen Wiederaufbau, der ohne die USA, der damals stärksten Wirtschafts- und Militärmacht der Welt, so nicht möglich gewesen wäre. Während des Kalten Krieges blieb Westeuropa in militärischer Hinsicht nach dem Scheitern des Projekts einer Europaarmee (1954), trotz der Bemühungen der kleinen Atommächte Frankreich und Großbritannien, das zu ändern, stets ein Anhängsel der USA. Auf ökonomischem Gebiet dagegen bildete es über Montanunion (1952) und Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (1957) schrittweise einen Zusammenschluss heraus, der eine eigenständige Wirtschaftsmacht darstellte und zumindest auf einigen Feldern als Konkurrent der USA auftreten konnte. Auch das war der Systemauseinandersetzung geschuldet, denn ein bürgerlicher Sozialstaat gegen den „kommunistischen“ Einfluss konnte ohne eine solide ökonomische Basis nicht errichtet werden.

Nach dem Ende des Kalten Krieges mit der infolge der Auflösung des Warschauer Paktes beendeten Blockkonfrontation in Europa wäre ein Umbau der europäischen Nachkriegsordnung zu einer wirklichen Friedensordnung möglich gewesen, wenn für einen Moment das Wort des französischen Sozialisten Jean Jaurès (1859-1914) außer Acht gelassen wird, dass der Kapitalismus den Krieg in sich trägt wie die Wolke den Regen.

Dieser Umbau wurde einzig durch das Weiterbestehen der Nato verhindert, denn die reagierte mit eisigem Schweigen auf den Vorschlag des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin, Russland in die Nato aufzunehmen, und als sein Nachfolger Wladimir Putin den Vorschlag wiederholte, erfolgte dieselbe Nicht-Reaktion. Stattdessen wurden in Europa alle ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes und von den ehemaligen Sowjetrepubliken die drei baltischen in die Nato aufgenommen. Die Stoßrichtung der sogenannten Osterweiterung der Nato war also eindeutig gegen Russland gerichtet.

Allerdings war der von den USA angeheizte Krieg in der Ukraine nicht nur ein Stellvertreterkrieg gegen Russland, sondern auch einer gegen ökonomisch und politisch potente Mitglieder der Europäischen Union.

In ökonomischer Hinsicht ist, von den beiden unmittelbar am Krieg beteiligten Ländern abgesehen, der eigentliche Verlierer Deutschland. Bekanntlich waren die trotz aller Widrigkeiten und Schwankungen über dreißig Jahre hinweg relativ stabilen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Russland für die USA stets ein Anlass zur Sorge, denn die aus einer gedeihlichen Kooperation zwischen den beiden Exporteuren – grob vereinfacht gesprochen von Rohstoffen der eine, von Technologien der andere – resultierende Wirtschaftskraft und Unabhängigkeit hätte dem Machtanspruch der USA und ihrer Konzerne durchaus gefährlich werden können, mit der eventuellen Folge, dass das auch auf anderen Feldern – etwa im zurzeit noch komplett von den USA beherrschten IT-Bereich – und in anderen europäischen Ländern geschieht.

Deshalb der jahrelange und nunmehr zu ihren Gunsten entschiedene Kampf gegen Errichtung und Inbetriebnahme der Gaspipeline Nordstream II und für die Lieferung von Flüssiggas aus den USA, wobei das nur der Anfang war; es folgte die Zerstörung von Nordstream I. Wer nach den Nutznießern fragt, kann Deutschland und Russland, die ökonomisch von dem Anschlag am stärksten betroffen sind, getrost aus dem Kreis der Tatverdächtigen ausschließen. Die von dem US-amerikanischen Investigativ-Journalisten Seymour Hersh publizierten Resultaten seiner Untersuchungen legen nahe, dass der Anschlag unter der Führung der USA und der Mithilfe Norwegens verübt worden ist. Auf deren Erdöllieferungen wird Deutschland in Zukunft angewiesen sein, sofern nicht solche „lupenrein demokratischen“ Staaten wie Saudi-Arabien und Katar liefern – da spielen die im Falle Russlands angeprangerten Menschenrechtsverletzungen plötzlich keine Rolle mehr.

Als die damalige Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton sich 2015 für den Abschluss einer Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP) aussprach, forderte sie, die TTIP müsse eine „ökonomische NATO“ werden, womit deren Zielrichtung klar definiert war, insbesondere dann, wenn berücksichtigt wird, dass laut Artikel 6 des NATO-Vertrags jeder militärische Angriff auf transatlantisches Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses als Bündnisfall einzuordnen ist, denn dann folgt daraus analog: Jeder ökonomische Angriff auf transatlantisches Gebiet, präziser: auf den Einflussbereich des US-Monopolkapitals, nördlich des Wendekreises des Krebses, ist im Sinne des TTIP zurückzuschlagen. Nach „9/11“ hatten die USA ihre NATO-Partner mit Hilfe der Artikel 5 und 6 militärisch an die Kandare bekommen, nun sollten sie auch ökonomisch an die Kandare genommen werden. Da aber Clinton in den Wahlen Donald Trump unterlag und dieser mit seiner quasi isolationistischen Amerika-first-Politik kein Interesse an TTIP hatte, verlief die Sache im Sand. Und heute ist so etwas wie TTIP eigentlich nicht mehr nötig, denn die wichtigsten Mitgliedsländer der Europäischen Union, allen voran Deutschland, gehorchen der von den USA gegenüber Russland und der Ukraine verfochtenen Politik aufs Wort, auch und gerade auf ökonomischem Gebiet.

Dass die Boykottmaßnahmen gegen Russland sich gegen die Interessen der deutschen Bevölkerung richten, kann jeder, der will, an den rasant steigenden Lebenshaltungskosten sehen, an den drohenden Einschränkungen bei der Versorgung mit Gas und Elektroenergie. Aber diese Politik richtet sich auch gegen eigene wirtschaftliche Interessen. Nach Auffassung des Informationsorgans German Foreign Policy stellen die aktuell hohen Energiepreise „die Fortexistenz energieintensiver Fabriken in Deutschland infrage; es droht die Verlagerung ins Ausland – insbesondere in die USA, wo die Energiepreise erheblich niedriger sind. Die Reindustrialisierung der Vereinigten Staaten ginge dann mit der Deindustrialisierung Deutschlands einher.”

Die USA sind also die eigentlichen Sieger des Krieges und daher an dessen Beendigung interessiert. Das zeigte sich schon Mitte November vorigen Jahres, nach den Midterm-Wahlen, denn deren Ergebnis war für die regierenden Demokraten nicht so schlecht, wie von ihnen befürchtet. Und da sie ihre eigentlichen Kriegsziele erreicht haben, nämlich Russland und Kleineuropa zu schwächen und als Konkurrenten auszuschalten, verlangen sie, dass Ukrainer und Russen in Verhandlungen treten müssen, um den Krieg zu beenden. Sie wollen sich endlich wieder auf ihren Hauptgegner, die Volksrepublik China, konzentrieren, denn allein sie kann dem Weltmachtanspruch der USA gefährlich werden.

Die deutsche Politik aber sollte sich jener Zielstellung erinnern, die schon der erste Generalsekretär der NATO, der Brite Hastings Ismay (1887-1965), formuliert hatte: to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down (die Russen draußen zu halten, die Amerikaner drinnen und die Deutschen klein). Sie gilt nach wie vor.

Anmerkungen und Quellen

Ami, it’s time to go – Lauter Fragen, die sich bei der Lektüre von Oskar Lafontaines Buch einstellen. Anlässe zum Nachdenken. Mit diesen auf der Basis der Lektüre von Lafontaines Buch weitergeführten Gedanken will ich das Denken über seine Forderungen nicht erschweren, zumal ich davon überzeugt bin, dass seine zentrale Forderung bei der Mehrheit unseres Volkes Zustimmung findet. Es gibt in Deutschland eine latente Mehrheit für „Amis, es ist Zeit, nach Hause zu gehen“.

Bibliografische Angaben: „Ami, it’s time to go!“, Westend Verlag Frankfurt, 2022, 62 Seiten, 12 €

Thomas Kuczynski, Statistiker und Marxist – Sein Vater war der berühmteste Ökonom der DDR, weltweit anerkannt als Karl-Marx-Experte. Thomas Kuczynski, 1944 im Londoner Exil geboren, erlebte das SED-Regime als Teil der Funktionärs-Kaste. Die Familie pflegte Umgang mit Bert Brecht und seiner Entourage; Kuczynski forschte am Institut für Wirtschaftsgeschichte, musste das vom Vater gegründete Haus 1991 abwickeln. Danach widmete er sich einer neuen Textausgabe von Marx‘ „Das Kapital“. Als das Regie-Kollektiv Rimini-Protokoll aus dem Werk ein Theaterstück machte, stand Kuczynski als Schauspieler auf der Bühne. Veröffentlichungen:

    Das Ende der Weltwirtschaftskrise in Deutschland 1932/33. Berlin 1972. (Berlin, Hochsch. für Ökonomie, Diss., 1972)

    Zur Anwendbarkeit mathematischer Methoden in der Wirtschaftsgeschichtsschreibung. Methodologische Überlegungen und praktische Versuche. Berlin 1978 (Berlin, Akad. d. Wiss. d. DDR, Promotion B, 1979)

    Wirtschaftsgeschichte und Mathematik. Beiträge zur Anwendung mathematischer, insbesondere statistischer Methoden in der wirtschafts- und sozialhistorischen Forschung. Akademie Verlag, Berlin 1985. (Hrsg.).

    Brecht 88. Anregungen zum Dialog über die Vernunft am Jahrtausendende. Ediert von Wolfgang Heise. Henschel, Berlin 1987. (Beitrag).

    Sozialismus oder Barbarei? Berlin 1991 ISBN 3-32001-6571.

    Das Kommunistische Manifest (Manifest der Kommunistischen Partei) von Karl Marx und Friedrich Engels. Von der Erstausgabe zur Leseausgabe. Mit einem Editionsbericht. Trier 1995 (Schriften aus dem Karl-Marx-Haus 49), ISBN 3-86077-207-4.

    Die Transformation der Werte in Produktionspreise im Rahmen der einfachen Reproduktion. Forschungsgruppe Politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft, Marburg 2000. ISBN 3-81850-3028.

    Brosamen vom Herrentisch. Verbrecher Verlag, Berlin 2004. ISBN 3-93584-3372.

    Geschichten aus dem Lunapark. Historisch-kritische Betrachtungen zur Ökonomie der Gegenwart. Papyrossa Verlag, Köln 2014. ISBN 978-3-89438-562-0.

    Karl Marx. Lohn, Preis und Profit. Laika Verlag, Hamburg 2014. ISBN 978-3-944233-30-7

    Karl Marx. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, erster Band Buch I: Der Produktionsprozess des Kapitals, neue Textausgabe mit USB-Card, bearbeitet und herausgegeben von Thomas Kuczynski. VSA-Verlag, Hamburg 2017. ISBN 978-3-89965-777-7.

    Zum Begriff der Produktionsweise bei Marx. Zentralität, Ambiguität und Differenzierung. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2018/19. Argument Verlag, Hamburg 2019, ISBN 978-3-86754-685-0, S. 11–20.

    Engels’ Altersbriefe im Lichte des Zusammenbruchs des „Realsozialismus“. In: Zeitschrift Sozialismus, Heft 11/2020, S. 38–42, ISSN 0721-1171

    Karl Marx. Lohn, Preis und Profit. Das kleine »Kapital«: ein Vortrag zur Politischen Ökonomie des Kapitalismus. Herausgegeben und kommentiert von Thomas Kuczynski, VSA Verlag, Hamburg 2022, ISBN 978-3-96488-147-2.

    Zum Begriff der Produktionsweise bei Marx. Zentralität, Ambiguität und Differenzierung. In: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 2020/21. Argument, Hamburg 2022. ISBN 978-3-86754-687-4, S. 11–20.


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