»Ampel-Regierung« am Ende?

Den Verfassungshütern ist die Schuldenbremse wichtiger als die Sicherung des Existenzminimums.

Objektiv betrachtet ist die Ampel im Bundestag von Freunden umgeben. Deshalb wird nicht über den Krieg gestritten, sondern über die korrekte Abrechnung der Kriegskredite. Die Leidenschaft, mit der dies geschieht und mit der auch die Medien am historischen Prozess vorbei berichten, könnte den Stoff für eine alberne Satiresendung liefern, die wegen des übertrieben grotesken Plots jedoch nirgends ausgestrahlt würde. Dabei ist die Sachlage längst geklärt: Die Schattenhaushaltswirtschaft der Bundesregierung ist ein organisierter Verfassungsbruch. Sie hat Kreditaufnahmen in „Sondervermögen“ ausgelagert, zielgerichtet Strukturen geschaffen, mit denen am Bundeshaushalt vorbei Geld ausgegeben werden könnte. Letzteres war nie ein Geheimnis – im Gegenteil: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach stolz vom „Doppel-Wumms“ als er den 200 Milliarden Euro schweren Wirtschaftsstabilisierungsfonds (WSF) vorstellte, der Steuergelder an Konzerne weiterleiten sollte, um sie in Wirtschaftskriegslaune zu halten. Grundlage dafür war die Feststellung einer „Notlage“ im Jahr 2022. Ausgezahlt werden sollten die Gelder aus dem Fonds aber überwiegend in den Jahren 2023 und 2024.

Der Bundesfinanzminister bediente sich eines Tricks und täuschte eine Kreditaufnahme im Rahmen der für das Jahr 2022 geltenden „Notlagen-Kreditermächtigung“ vor, um das Geld bei Bedarf auch später abrufen zu können. Der Bundesrechnungshof bezeichnete das später als „finanztechnisch beispiellose Konstruktion“. Ganz offen wurde auch der Missbrauch des „Klima- und Transformationsfonds“ (KTF) betrieben. Während die bürgerlichen Medien im Zusammenhang mit diesem Schattenhaushalt stets darauf hinwiesen, dass hier „Geld für Klimaschutzmaßnahmen“ beiseite geschafft werde, war es in Wirklichkeit andersrum. Die für Klimaschutz ausgezeichneten Mittel und Kreditaufnahmen wurden für alle möglichen Zwecke im Sinne des Großkapitals umgeleitet und zum Beispiel als Milliarden-Subvention für eine Intel-Fabrik in Magdeburg zur Verfügung gestellt.

Wie konnte man 2009 mehrheitlich im Bundestag und in Folge in den Landtagen politisch und gleichzeitig ökonomisch so borniert sein und dem Staat verfassungsrechtlich quasi das Schuldenmachen verbieten? Diese unerträgliche Borniertheit macht der zurzeit und zukünftig herrschenden Politik, die über einen politischen und dafür notwendigen finanziellen Handlungsspielraum verfügen muss, nun endgültig den Garaus.

Infolge des Verfassungsgerichtsurteils zum Haushalt hat die Bundesregierung neun Förderprojekte gestoppt, die bislang aus dem Klima- und Transformationsfonds bezahlt wurden. Wie das zuständige Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle mitteilte, ist unter anderem das Aufbauprogramm Wärmepumpe auf Eis gelegt.

Der Bundesfinanzminister bezeichnete die Einhaltung der Schuldenbremse und den Verzicht auf Steuererhöhungen als rote Linien für eine weitere Regierungsbeteiligung der FDP. Bei absoluten Grundüberzeugungen werde er nicht wackeln, sagte der Parteivorsitzende in einem Interview mit „The Pioneer“. Die Leitplanken für die Regierungsbeteiligung der FDP seien immer gewesen, dass der Schuldenstand in Deutschland sinken müsse und dass die Steuerbelastung der Bürger nicht steigen dürfe, betonte Lindner. Beide rote Linien haben Lindner und seine FDP schon überschritten. Die Mehrwertsteuer in der Gastronomie wird zum Jahreswechsel erhöht und der Schuldenstand gemessen am BIP wird steigen, wenn die Wirtschaft wie derzeit prognostiziert schrumpft. Eine Büroklammer der Herzen wird Christian Lindner nicht mehr.

Es geht mit dem jetzt vom Bundesverfassungsgericht gefällten Urteil aber nicht nur um die einmaligen 60 Milliarden Euro nicht mehr benötigter Kredite zur Bewältigung der Corona-Krise, die von der Ampel-Regierung widerrechtlich in den Energie- und Klimafonds umgebucht worden sind. Es geht vielmehr mit dem ersten Urteil des Verfassungsgerichtes seit 2009 in Sachen staatlicher Schuldenbremse gemäß Art. 109 und 115 GG sowie Art. 109a GG um etwas Grundsätzliches: Der Staat ist zukünftig, mit Ausnahme von Naturkatastrophen und notlagenbedingter Situationen, verpflichtet, die Schuldenbremse einzuhalten, und das heißt, der Bund darf sich jährlich maximal bis zu einem sogenannten strukturellen Defizit von 0,35 Prozent nettoneuverschulden, also zur Bezahlung seiner notwendigen strukturellen Ausgaben Kredite aufnehmen, und gleichzeitig darf die aufgelaufene staatliche Schuldenlast dabei maximal bei 60 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts liegen.

Schon der bedeutende Finanzwissenschaftler Lorenz von Stein stellte 1878 fest: Ein Staat ohne Staatsschuld tut entweder zu wenig für seine Zukunft oder fordere zu viel von seiner Gegenwart. Aber alle plappern, wie ein Papagei, den Unsinn über Staatsverschuldung nach, und dass damit angeblich Deutschland auf eine »finanzielle Katastrophe« zulaufen würde.

Erstens spielen die Schulden eines einzelnen privaten Haushalts oder eines Unternehmens für die Volkswirtschaft überhaupt keine Rolle; hingegen ist die Schuldenpolitik des Staates angesichts seines hohen Anteils an der Wirtschaft für den volkswirtschaftlichen Ablauf von großer Bedeutung.

Zweitens sind Schulden von privaten Haushalten oder von Unternehmen mit den Schulden von Staaten nicht vergleichbar; denn die öffentliche Verschuldung ist eine Kreditsumme, die wir – Bürger*Innen und Institutionen wie Banken und Versicherungen – uns selbst schulden. Demgegenüber sind private Schulden Forderungen zwischen verschiedenen Wirtschaftseinheiten. Nur eine äußere Staatsschuld ist daher mit den Maßstäben der betriebswirtschaftlichen Finanzierungslehre zu betrachten.

Und drittens werden nicht nur die Schulden vererbt, sondern natürlich auch die den Schulden gegenüberstehenden öffentlichen Vermögenswerte; die Summe der Schulden ist in einer Volkswirtshaft immer gleich groß der Summe allen Vermögens.

Dabei zeigt uns die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung (VGR) im empirischen Befund für Deutschland von 1999 bis 2022 einen jahresdurchschnittlichen Vermögenszuwachs sowohl der privaten Haushalte als auch der nicht finanziellen Kapitalunternehmen und des gesamten finanziellen Sektors in Höhe von 188,6 Milliarden Euro. Das Vermögen ist dabei, wie könnte es in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung anders sein, extrem ungleich verteilt. Dies zeigt u. a. die Armutsquote von über 16 Prozent im Land; das sind rund 13 Millionen Menschen.

Den oben genannten drei Gläubigerkonten stehen zwei Schuldnerkonten gegenüber. Der Staat mit jahresdurchschnittlich 33,1 und das Ausland mit 155,5 Milliarden Euro Schulden. Der Saldo aller Gläubiger- und Schuldnerkonten ist, wie bereits erwähnt, natürlich immer gleich null. Bei der jährlich aufgelaufenen staatlichen Nettoneuverschuldung von 33,1 Milliarden Euro muss sich die deutsche Volkswirtschaft mit einem nominalen jährlichen Bruttoinlandsprodukt von 3.876,8 Milliarden Euro (2022) nun wirklich keine Sorgen bezüglich eines Staatsbankrotts machen. Dies gilt auch für eine Schuldenstandsquote von 66,1 Prozent in 2022 nach Maastricht-Kriterien. Dies waren im 2. Quartal 2023 absolut insgesamt für den Bund, die Bundesländer und Gemeinden sowie die Sozialversicherungen 2.417,0 Milliarden Euro. Interessant ist hier, dass der größte Schuldner nicht der Staat ist, sondern mit großem Abstand das Ausland. Die Ursache ist ein politisch-neoliberaler Wahn: möglichst große Exportüberschüsse zu erzielen, um damit Arbeitslosigkeit ins Ausland zu verlagern und andere Volkswirtschaften in die Verschuldung zu treiben. Die Deutschen leben dafür unter ihren Produktions- bzw. Konsumtions- und Investitionsverhältnissen. Die gesamtwirtschaftliche Ersparnis übersteigt die binnenwirtschaftlichen Nettoinvestitionen. Die Differenz fließt als Kapitalexporte ins Ausland ab.

Ursache der Staatsschulden, die letztlich nichts anderes zeigen als das ökonomische Versagen der privaten Wirtschaft (Karl Marx nannte dies die »Veräußerung des Staats«), sind allerdings ihre Umverteilungseffekte. Nur Vermögende können dem Staat Kredite geben und erhalten dafür Zinszahlungen. Diese Zinsen und auch eine Tilgung der Staatsschuld müssen aus Steuereinnahmen, die von allen Bürger*Innen kommen, aufgebracht werden. Dadurch findet eine Redistribution der Einkommen von unten nach oben statt. So verwundert es auch nur den ökonomischen Laien, wenn er entsetzt feststellt, dass die Reichen nach einer Krise, die mit Staatsverschuldung bekämpft wurde, noch reicher geworden sind.

Wie konnte aber die sogenannte staatliche Schuldenbremse bzw. Kreditbremse überhaupt den »Weg ins Grundgesetz« finden. Man stelle sich hier nur einmal vor, Volksvertreter*Innen hätten geplant, eine Kreditbremse für Unternehmen in die Verfassung zu schreiben. Nun, man hätte die uns in den Parlamenten vertretenden Politiker*Innen schlicht für geisteskrank erklärt. Dazu wollten sie es dann doch nicht kommen lassen. Nein, die Schuldenbremse ist das Ergebnis eines neoliberalen Staatsverständnisses, das man als weiteren politischen Wahn einstufen muss, also als eine unkorrigierbare Falschbeurteilung der Wirklichkeit, die unbeeinflussbar von persönlichen Erfahrungen auftritt und an der mit absoluter subjektiver Gewissheit festgehalten wird. Der Staat wird als der »Kostgänger« der Wirtschaft gesehen, als »bürokratisches Monster«. In diesem Duktus werden Staatsausgaben und Staatsschulden von heute als die Steuererhöhungen von morgen gesehen. Und Steuererhöhungen wollen natürlich alle diejenigen Wirtschaftssubjekte nicht, die über hohe Einkommen und Vermögensbestände verfügen.

Mit dem jetzt vorliegenden Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist der Bund, in Anbetracht der zukünftigen gigantischen strukturell notwendigen Aufgaben im Grunde handlungsunfähig. Und es kommt noch schlimmer, bedenkt man, dass die Bundesländer und ihre Kommunen schon heute überhaupt keine Kredite zur Finanzierung ihrer Ausgaben mehr machen dürfen; dies aber dennoch aus Not gemacht haben! Auch hier gilt zukünftig: »Die Geister die ich rief, werde ich nun nicht mehr los.« Hier hat dann wohl die CDU/CSU ein politisches Eigentor geschossen, regiert sie doch auf Länderebene mit.

Es wird auf Bundesebene nicht nur im Hinblick auf die gewaltigen Klimaschutzinvestitionen, sondern auch für nicht mehr hinreichend finanzierbare staatliche Investitionen in den Bereichen Infrastruktur, Digitalisierung, Wohnungsbau, Bildung, Gesundheit und nicht zuletzt für eine Arbeitslosigkeits- und Armutsbekämpfung, ganz zu schweigen von Ausgaben für eine notwendige Migrationspolitik, zu einer gewaltigen Streichliste kommen. Allein im Klima und Transformationsfonds sollten zwischen 2024 und 2027 insgesamt 211,8 Milliarden Euro staatlicher Gelder bereitgestellt werden. Jetzt fehlen hier 60 Milliarden bzw. gut 28 Prozent. Alles wird auf den Prüfstand kommen, auch die Investitionen für den Ausbau des Schienennetzes bei der Deutschen Bahn und ebenso die geplanten Milliardensubventionen für »grünen« Wasserstoff in der deutschen Stahlindustrie. Die Streichliste wird zudem das eh nur geringe Wirtschaftswachstum weiter schwächen und damit auch die steuerliche Einnahmenseite des Staates.

Im Grunde kann die Ampel-Regierung nur noch abdanken, weil sie politisch unfähig sein wird, drastisch notwendige Steuererhöhungen für Einkommensreiche und Vermögensmillionäre durchzusetzen. Denn dies bleibt der Regierung als einzige politische Handlungsoption. Ein neu gewähltes Parlament müsste dann mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit versuchen, die Verschuldungsbremse in der heutigen Form aus dem Grundgesetz zu streichen und den vor 2009 gültigen Verschuldungsartikel 115 GG wieder in Kraft zu setzen. Hier wurde allen öffentlichen Haushalten eine verfassungsrechtliche Pflicht zur antizyklischen Haushaltsgestaltung durch ein aktives »deficit spending« auferlegt. In diesem Kontext gab es nur eine Grenze für die Kreditaufnahme des Bundes und der Länder. Dies waren die Nettoinvestitionsausgaben (Bruttoinvestitionen minus Abschreibungen) des Staates. Dahinter verbarg sich die richtige ökonomische Interpretation von staatlichen Investitionen, die nicht nur einen Schulden-, sondern auch einen Vermögenszuwachs implizieren.

Das Urteil aus Karlsruhe hat eine große Tragweite. Man kann nur hoffen, dass die von uns gewählten Parlamentarier jetzt endlich die vorliegende Schuldenbremse aus dem Grundgesetz entfernen und eine ökonomische Vernunft einkehrt. Leider ist zu befürchten, dass dies nicht der Fall sein wird. Die schwierigsten Prozesse bei uns Menschen sind halt Bildungsprozesse. Deshalb muss es zu einer außerparlamentarischen Opposition kommen. Gewerkschaften, Umwelt- und Sozialverbände sowie die Kirchen und nicht zuletzt die Hochschulen sind aufgerufen, unseren Volksvertreter*Innen klarzumachen, dass sie Politik für und nicht gegen das Volk zu machen haben.

Ich weiß aus eigener Erfahrung, basierend auf vielen Haushaltsdebatten, dass der vermeintliche Sparzwang vor allem als Disziplinierungsmittel betrachtet wird. Durch den Sparzwang wird verdeutlicht, dass nicht viel zu erwarten ist. Mit der Schuldenbremse wurde ein ideales Instrument geschaffen, das absurd in die Verfassung aufgenommen wurde. Dieses willkürliche, unflexible Instrument erhielt damit einen ähnlichen Rang wie das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip (Artikel 20)! Noch mehr: Das Sozialstaatsprinzip ist sehr unverbindlich und kaum überprüfbar. Die Schuldenbremse hingegen ist sehr konkret und überprüfbar. Hinzu kommt, dass sich das Parlament sein zentrales Recht, die Aufstellung des Budgets, immer mehr aus der Hand nehmen lässt. Wie bei allen anderen wichtigen Gesetzen und Maßnahmen gibt praktisch die Regierung den Kurs vor. Nur deshalb kommt dem Finanzminister eine Bedeutung zu, die er theoretisch gar nicht haben sollte.

Die Haushaltsdebatte und die schrägen Töne, von denen sie aktuell dominiert wird, zeigen auch, dass es dringend einer neuen politischen Stimme bedarf – am vielversprechendsten erscheint mir die der Gruppe um Sahra Wagenknecht.

Anmerkungen und Quellen

Heiner Flassbeck – Schuldenbremse: Bankrotterklärung der Mainstream-Ökonomik

Deutscher Bundestag, Stenografischer Bericht, 225. Sitzung Berlin, Freitag, den 29. Mai 2009

MARIAN KRÜGER, Ein Projekt der Entstaatlichung, Einige Anmerkungen zur Debatte um die Föderalismusreform II

Dorothea Schäfer, Geborgtes Vertrauen

Markus K. Brunnermeier: Deciphering the Liquidity and Credit Crunch

The Economist, 25.–31. Oktober 2008, Abb. S. 82.

Die Finanzkrise meistern – Wachstumskräfte stärken, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

Notlage gesucht – Zeitung vum Lëtzebuerger Vollek

Ralf Wurzbacher – „Wir müssen uns das Geld von den Superreichen holen!“

Investitionsstau wird größer, der Haushalt kleiner. Und der Bundestag billigt den Irrweg der Regierung. Wer profitiert von diesem Systemfehler?

Die Haushaltskrise – Tagesschau

Die Schuldenbremse muss weg – André Tautenhahn


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