Jahreswende 23/24

Täglich, also auch an der Jahreswende 23/24, stellt sich die Frage: Wovon träumen unsere vermögenden Landsleute, was wollen die Piesepampel der Ampel, was wünschen sich die christlichen Lallbacken der Opposition? Ganz einfach: Tarifverträge und Steuerfahnder möchten sie am liebsten abschaffen, Kapital- und Einkommenssteuern, Erbschafts- und Kapitaltransaktionssteuer wollen sie ächten. Sie arbeiten daran, dass Asylanträge nur noch in der österreichischen Botschaft von Nordkorea gestellt werden dürfen, und dass das Wachstumschancengesetz ad Infinitum wächst. Steuergeschenke für Unternehmen und Subventionen für Weltkonzerne sind ihnen eine Herzensangelegenheit. Ihr unumstößliches Credo lautet: Niemals sollen die Armen auf Kosten der Reichen profitieren. Das Klima ist ihnen wumpe, sie sind mit dem Wetter zufrieden, sie wollen nur in verkehrsberuhigten Zonen leben: ohne Fahrräder, Busspuren und Fußgängerüberwege.

„Alle Staatsgewalt geht vom Kapital aus“ – das weiß man, sagt es aber nicht. Wenn das Volk wirklich die Macht hätte, wie gelegentlich behauptet wird, würde es sich wohl kaum Gesetze ausdenken, die sich nur unwesentlich von den Auswirkungen eines Raubüberfalls unterscheiden. Und ein armer Mensch würde nicht auf die Idee kommen, ein Gesetz zu erlassen, das lautet „Du sollst nicht stehlen.“ So ein Gesetz erlassen nur Menschen, die reicher sind als andere, das heißt: Sie lassen es erlassen, und zwar von Leuten, die sich in Parteien organisieren, um ihre privaten Glücksbestrebungen als Gemeinwohl durchzusetzen.

Der Satiriker Jonathan Swift hat vor 300 Jahren aufgeschrieben, was er unter einer Partei versteht: „Eine Horde unselbstständiger, teils korrumpierter, teils einfach opportunistischer Leute, die von einem einzigen demagogischen „Privatgehirn“ angestiftet, angeführt, inspiriert und kommandiert wird…“ Das ist nicht schmeichelhaft. Aber immerhin – ein Gehirn… Allerdings war das vor 300 Jahren. Wer unbedingt glauben will, alle Gewalt ginge vom Volk aus, soll das ruhig tun. Auch dieser Glaube erleichtert das Leben.

Tatsächlich hat das Volk nicht den geringsten Einfluss auf die Regierung, weder in der großen Politik noch in solchen Alltagsfragen wie Fahrpreiserhöhungen, Mülltonnen-Leerung oder Grunderwerbssteuer. Die Kluft zwischen Regierenden und Regierten, Obrigkeit und Untertan, ist in der demokratischen Bundesrepublik kaum geringer als im Deutschen Kaiserreich, das sich offen als Obrigkeitsstaat verstand. Das stört aber nicht, weil sich – nach den letzten Umfragen – über dreißig Prozent der deutschen Untertanen ohnehin einen tatkräftigen Diktator wünschen. Am liebsten einen, mit dem man über alles diskutieren kann…

Der durchschnittliche Volksvertreter ist ein Mensch mit jahrzehntelanger Lebenserfahrung und großem Verantwortungsbewusstsein. Er ist beruflich nicht vorbelastet, doch er kennt die Nöte der Wirtschaft, der Kirchen, der Sozialverbände und der Gewerkschaften, er weiß um die Bedürfnisse seines heimatlichen Gesangs- und Kegelvereins, er hat aber auch ein offenes Ohr für die Wünsche seiner Kinder und anderer Haustiere. Kurzum: Der deutsche Volksvertreter kommt aus dem Nichts, verschwindet im Nichts – und in der Zwischenzeit leistet er Großes.

Das Arbeitsgebiet eines Volksvertreters ist umfangreich und anspruchsvoll: Er muss Vorhaben verschleiern, Entscheidungen verschieben, Fragen ausweichen, Tatsachen verfälschen, Zusammenhänge frisieren, Irrtümer verheimlichen, Alkohol testen, Spenden kassieren, Schmiergelder zählen – das alles verlangt Tatkraft und Verantwortungsgefühl. Und man kann so einen Volksvertreter nur bewundern, dem nicht mal der Schweiß ausbricht, wenn er die Wahrheit sagt. Und die Wahrheit sagen Volksvertreter jedes Mal, wenn sie sich gegenseitig Inkompetenz vorwerfen…

Natürlich kann man angesichts dieses Berufsbildes zu der Ansicht gelangen, Volksvertreter sollen gefälligst nicht von des Volkes Steuern, sondern von den Institutionen bezahlt werden, denen sie dienen. Wenn die Autoindustrie unbedingt einen »Grüß August« braucht, kann sie ja meinetwegen einen Verkehrsminister beschäftigen, aber sie soll ihn mir nicht an jeder Zapfsäule auf die Benzinrechnung setzen… Doch leider ist es in unserem System nicht möglich, für die Volksvertreter ein leistungsabhängiges Einkommen festzusetzen, denn das würde bedeuten: Nur, wenn sie eins der Probleme im Land gelöst haben, gibt’s Geld. Sonst nicht. Aber dafür lässt sich keine Mehrheit finden.

Parteien sollten sich ausschließlich aus den privaten Einkommen ihrer Mitglieder und Anhänger finanzieren. Es ist doch nicht einzusehen, dass sich die Parteien aus Steuergeldern finanzieren, die sie sich selbst bewilligt haben, und ein Unding ist auch, dass Arbeitnehmer Lohn- und Mehrwertsteuern bezahlen, um Parteien zu finanzieren, denen sie gar nicht angehören, und dass eine Konzern-Belegschaft Gewinne erarbeitet, die der Vorstand dann als Parteispende verwendet, das ist doch geisteskrank.

Trotz allem kann man aber sagen: Der Satz „Die Politik hat versagt“ ist falsch. Das Gegenteil ist richtig: Die Politik hat exakt das geleistet, was zur Sicherung ihrer Positionen und deren Ausbau notwendig ist. Deutschland ist ein Paradies für professionelle Volksvertreter. Marx und Engels sagten allerdings voraus, das werde sich ändern: „An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht »abgeschafft«, er stirbt ab.“ Schön wär’s: Der Staat fährt in die Grube, die Verwaltung verwaltet…

Kriegen wir das 2024 hin?

Da müsste einiges verschoben werden: Durch die Abschaffung der Parteienfinanzierung treiben wir die Parteien in den Ruin – das wäre dann das Ende der Berufspolitiker. Wir verschrotten sämtliche Dienstwagen, wir schicken keine Bundeswehr-Brigade ins Baltikum oder sonst wohin, wir rüsten nicht jeden Kriegsherren mit Waffen aus, und wenn irgendwelche bellizistischen Schreckschrauben unbedingt die deutsche Marine im Roten Meer haben wollen, sollen sie das gefälligst selbst bezahlen. Wir legen den Vorsitzenden der freien und der christlichen Demokraten nahe, ein halbjähriges Praktikum als Streetworker bei der Obdachlosenhilfe oder bei der Kindernothilfe zu machen – da lernen sie dann mal eine Bevölkerungsgruppe kennen, die sie bislang noch nicht mal vom Hörensagen kannten. Die Energie zu verstaatlichen, die Wirtschaft klimaneutral umzubauen, Wohnungen zu kommunalisieren, Polikliniken einzurichten, Lehrer auszubilden: für eine sauber strukturierte Verwaltung kein Problem. Da rückt dann auch die gute alte Planwirtschaft wieder ins Spektrum der Machbarkeiten…

Aber im Trend liegt das alles nicht. Im Gegenteil: Die autoritären Regime sind weltweit auf dem Vormarsch, überall rennen die Wählenden den Autoritären hinterher – freiwillig: In Ungarn und Italien, den Rechtsparteien in Frankreich, Dänemark oder Schweden, in Argentinien und den Niederlanden, Neonazis der AfD in Deutschland. Und in den USA wird möglicherweise wieder Donald Trump ans Ruder kommen…

Wann haben wir uns das letzte Mal wirklich Zeit genommen? Nicht nur das kleine bisschen Zeit, in das wir das vermeintlich Notwendige gequetscht haben, sondern die wirkliche Zeit?

Sie fragen sich, was ich meine, mit „die wirkliche Zeit“?

Die „wirkliche Zeit“, das ist für mich jene Zeit, in der die Zeit der Uhren und der Kalender, während ich sie erlebe, keine Rolle spielt. Die „wirkliche Zeit“ zu erleben, tut gut. Ein Bad in der wirklichen Zeit erfrischt, es bringt Erholung, es erfüllt und macht glücklich.

Daher wünsche ich Ihnen allen, dass es Ihnen gelingen möge, in den nächsten Tagen, zu Weihnachten und bis zum Jahreswechsel, sich die Zeit, die Sie finden, auch zu nehmen, ganz und gar bei sich zu sein, in den Flow zu geraten, in einer anderen Geschichte zu versinken oder für den anderen, der sie braucht, bedingungslos da zu sein.

Zeit ist eben nicht nur Geld. Der Satz ist sowieso falsch. Geld ist gestohlene Satz trifft es eher. Zeit ist das, womit man sie anfüllt. Im nächsten Jahr werde ich nun 71 Jahre alt. Ein Mensch, der dieses Alter erreicht, sollte – auch wenn er sich gesund und fit fühlt – spätestens jetzt daran denken, seine Angelegenheiten zu regeln. Schließlich stellt er fast täglich fest, wie das Schicksal einen seiner Zeitgenossen nach dem anderen aus dem Leben ruft. Es ist nicht mehr so, dass die Einschläge nur näher kommen, sie gehen schon weit über einen selbst hinaus und treffen längst auch die Jüngeren. Manche sterben nach langer Krankheit, manche erliegen einem Unfall, andere trifft es sprichwörtlich „plötzlich und unerwartet“.

Für einen Staat sollten diese Jahre eigentlich kein Alter sein. Schließlich erneuert er sich mit seiner Bevölkerung permanent. Dass die Alten verschwinden ist normal, und dass die Jungen nachwachsen und übernehmen, wäre im Grunde auch normal. In Bezug auf Deutschland sind die Jahre über 70 allerdings ein hohes Alter, ein sehr hohes, vielleicht schon ein zu hohes Alter. Ein Blick in die Vergangenheit lässt erschrecken.


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