General Olbricht und Claus Schenk Graf von Stauffenberg –

Zwielichtige Attentäter vom 20. Juli 1944

Zum 80. Jahrestag des Attentats auf Hitler ist der blind gefeierte Mythos vom aufrechten Widerstand der beteiligten Wehrmachtsangehörigen erneut zu hinterfragen. Friedrich Olbricht, Stauffenbergs rechte Hand, war als Divisionskommandeur maßgeblich am brutalen Überfall auf Polen beteiligt, bekam die zweithöchste Auszeichnung des Dritten Reiches und dankte dem Führer für das Vertrauen. Bis heute wollen Politik und Geschichtsschreibung davon nichts wissen. Von Hartmut Sommerschuh.

Mit Burg auf Felsen, Fluss im Tal und Obstbaumblüte zog meine Heimatstadt Leisnig zwischen Leipzig und Dresden immer Fremde an. Doch im Sommer 1939 verlor es seine Unschuld. Da standen die Sommerfrischler und Einwohner neugierig am Marktplatz. Das aufmarschierte Infanterieregiment 101, drei Bataillone, knapp 3.000 Soldaten zu Pferd, zu Fuß, mit Geschützen und Fahrzeugen, verließen ihre Kaserne. Auf den jungen Gesichtern Abenteuerlust, aber auch Ernst. Nur der Kommandeur Generalmajor Hans von Trettau und eingeweihte Stabsoffiziere kannten den genauen Hintergrund des Marschbefehls: Kampf gegen Polen, Grenzübertritt in Schlesien.

Einen Tag später sprach Hitler auf der Prager Burg einem anderen Leisniger, dem Kommandeur der 24. Infanteriedivision, General Friedrich Olbricht, seine besondere Anerkennung aus – für die von Komotau aus in „rücksichtslosem Tempo“ gelungene Besetzung der tschechischen Hauptstadt.[1] Das Sudetenland war längst besetzt, am 15. März 1938 hatte die Wehrmacht auch die „Rest-Tschechei“ okkupiert.

Friedrich Olbricht war 1888 in einem Haus unweit des Leisniger Bahnhofs als Sohn eines Mathematikprofessors und Oberlehrers zur Welt gekommen. Nach einem aufstrebenden Militärleben wurde er neben Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Generalmajor Henning von Tresckow eine Schlüsselfigur beim Attentat am 20. Juli 1944 auf Hitler. Als Leiter des Allgemeinen Heeresamtes hatte Olbricht unter dem Codewort „Walküre” am Plan für eine Entmachtung des Regimes mitgewirkt. Das Attentat scheiterte, zusammen mit Graf von Stauffenberg, Werner von Haeften und Mertz von Quirnheim wurde er im Hof des Berliner Bendlerblocks erschossen. Friedrich Olbricht wird mit den anderen führenden Köpfen des militärischen Widerstandes nicht nur bei der jährlichen Berliner Gedenkfeier geehrt. In Leipzig hat die Bundeswehr die General-Olbricht-Kaserne. In Leisnig gilt er als teurer Sohn der Stadt. Am Geburtshaus ehrt ihn eine Granittafel. Eine Rotbuche wurde gepflanzt. Und das Mietshaus, in dem ich in den 1950er-Jahren aufwuchs, steht heute am „Olbrichtplatz.“ Doch seine ordensträchtige Laufbahn bis zum Hitlerattentat bleibt weitestgehend im Dunkeln.

Mit der Versetzung des Vaters nach Freiberg, dann nach Bautzen verließ die Familie Leisnig. Nach dem Abitur ging Olbricht zum Militär, machte den Ersten Weltkrieg mit, wurde Hauptmann. 1920 übernahm ihn die Reichswehr und 1926 das Truppenamt, Abt. „Fremde Heere“. Dienstliche Auslandsreisen führten ihn nach Schweden, Italien, Österreich, in die Balkanländer, 1930 für sechs Wochen durch die Sowjetunion. Seit 1931 war er Bataillonskommandeur in Dresden, erlebte den Aufstieg Hitlers, dem er keine Sympathien entgegenbrachte und doch – militärisch folgte. 1937 wurde er zum Generalmajor befördert, war durch seine Kontakte in die Staatsstreichpläne vom Herbst 1938 eingeweiht, übernahm im selben Jahr dennoch als Kommandeur die 24. Infanteriedivision im Wehrbezirk IV, Dresden-Leipzig-Chemnitz.

Im August 1939 sammelte sich seine Division bei der Stadt Militsch an der polnischen Grenze. 100 Kilometer südöstlich, beim oberschlesischen Rosenberg, wartete zur gleichen Zeit das Infanterieregiment 101 aus Leisnig. Es gehörte nicht zu Olbrichts Division, sondern zur 14. Infanteriedivision unter General Erich Friderici. Der aber wurde später als Divisionskommandeur einer der Nachfolger von Olbricht. Für alle gab es den einen Befehl: Einmarsch in Polen. Das Land war umstellt, Schlesien ein wichtiges Aufmarschgebiet.

Schon Mitte April 1939 hatte Hitler den Kriegsplan gegen Polen in Auftrag gegeben und danach den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt von 1934 gekündigt. Zu unentschlossen war für ihn die Warschauer Regierung unter dem Druck der Engländer geblieben, einem gemeinsamen antisowjetischen Bündnis beizutreten und vor allem einem Autobahn- und Eisenbahnkorridor nach Danzig zuzustimmen. Ende Mai offenbarte er gegenüber den Chefs von Heer, Marine und Luftwaffe das Ziel des „Feldzuges“:

    „Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um Arrondierung des Lebensraumes im Osten und um Sicherstellung der Ernährung … In Europa ist keine andere Möglichkeit zu sehen.“[2]

Ende August 1939 ließ Hitler auf dem Obersalzberg in einer Rede vor 50 Generälen der aufmarschierten Divisionen alle Masken fallen: [3]

„Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. 80 Millionen Menschen müssen ihr Recht bekommen. Ihre Existenz muss gesichert werden. Der Stärkere hat das Recht. Größte Härte.

    Schnelligkeit der Entscheidung. Festen Glauben an den deutschen Soldaten. Krisen sind nur auf das Versagen der Nerven der Führer zurück zu führen. Erste Forderung: Vordringen bis zur Weichsel und bis zum Narew. Unsere technische Überlegenheit wird die Nerven der Polen zerbrechen. Jede sich neu bildende lebendige polnische Kraft ist sofort wieder zu vernichten. Fortgesetzte Zermürbung. … Restlose Zertrümmerung Polens ist das militärische Ziel. Schnelligkeit ist die Hauptsache. Verfolgung bis zur völligen Vernichtung.“ [4]

Ein völkerrechtswidriger Feldzug wurde beschlossen. Nach Darstellung des Historikers Winfried Baumgart war Wilhelm Canaris, Chef der deutschen Abwehr, noch am nächsten Tag erschüttert von dieser Ungeheuerlichkeit, als er Teile seiner Stenogrammnotizen Oberst Hans Bernd Gisevius und Oberst Hans Oster vortrug.[5] Beide arbeiteten unter ihm und waren Mitglieder einer Widerstandsgruppe um Hans Beck, die seit 1938 Zeugnisse für einen Sturz des Hitlerregimes sammelten.

Auch Friedrich Olbricht gehörte als Stabschef des 1934 gebildeten Generalkommandos vom Wehrkreis IV in Dresden zu diesem Personenkreis. In seiner Funktion hatte er sogar freundschaftlichen Kontakt zu zivilen Gegnern des Nationalsozialismus wie dem Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler.

Doch wie Canaris blieb Olbricht ein altgedienter, schwankender Getreuer des Militärs – der jahrzehntelang gewissenhaft seine Aufgaben erfüllte.

Die Publizistin Hannah Ahrendt schrieb nach dem Krieg über die preußisch-deutsche Oberschicht:

„Sie folgten keinem Idealismus, auch nicht dem falschesten. Sie waren Getriebene, zutiefst unsichere und unselbstständige Charaktere … Gedankenlosigkeit und moralische Indifferenz degradierten sie zu den willenlosen Vollstreckern der Unmenschlichkeit.“ [6]

Historikern wie Jochen Böhler ist es zu verdanken, dass der „Mit größter Härte“ durchgeführte „Polenfeldzug“ ab 1. September 1939 überhaupt ins Gedächtnis der deutschen Geschichtsschreibung rückte. [7] Zusammen mit wissenschaftlichen Mitarbeitern des Deutschen Historischen Instituts Warschau konzipierte er 2005 in der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn eine Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht in Polen.

Besonders erschütternd ist sein Buch „Auftakt zum Vernichtungskrieg“. Denn darin rekonstruiert er aus Divisions- und Regimentstagebüchern sowie polnischen Nachkriegs-Prozess-Akten, was „rücksichtsloses Durchgreifen“ gegenüber den ungebildeten, verhetzten, zu Überfällen fähigen Polen und Juden hieß.

Am 1. September 1939 überschritt bei Rosenberg auch das Leisniger Infanterieregiment 101 die polnische Grenze, „stieß nördlich an Tschentstochau vorbei und weiter über Maluszyn auf Ilza. Bei Solec wurde der Weichselübergang erzwungen und weiter auf Lublin vorgestoßen, das am 18. September erobert wurde.“ [8] So die unerträglich kritikfreie Schilderung im „Lexikon der Wehrmacht“.

Am 12. September, so zitiert dagegen Jochen Böhler das Tagebuch des Regimentsarztes, hatte man in Solec nad Wisłą 30 Juden als Geiseln in einen Keller eingesperrt. Als sie fliehen wollten, wurden Handgranaten geworfen.

„Ein rauhes Zupacken. Aber es musste Ruhe werden, so oder so. Der (Trupp-)Führer ließ den Keller zumauern, vorher dickes Feuer machen.“ [9]

Das Massaker von Solec durch Leisniger Soldaten ist nur eine der unzähligen Greultaten, die an allen Frontabschnitten Alltag waren; auch bei der 24. Infanteriedivision von General Friedrich Obricht und seiner 24. Infanteriedivision, die sich auf einer anderen Route über Schildberg, Grabo, Warta mit allen Mitteln durchkämpfte – und an der Bzura bei Lowicz eine entscheidende Schlacht gewann. Hier hatten polnische Kavallerie- und Infanterieverbände versucht, hinter die Linien zu gelangen, wurden aber eingekesselt. 170.000 Soldaten gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft, und unzählige Menschen verloren ihr Leben. Dann folgte das letzte Hindernis im „Kampf um Warschau.“

Aus 70 Geschützen wurden die Verteidiger von Mlociny, dem nördlichsten Stadtteil der polnischen Hauptstadt kurz vor der Weichsel, niedergerungen.

    „Wer diesen Feuersturm sah und hörte. Dem schlug das Soldatenherz höher“ [10]

An vielen Beispielen rekonstruiert der Historiker Jochen Böhler in seinem Buch das mörderische Vorgehen an allen Frontabschnitten: Massenhinrichtungen von Einwohnern als Rache für angebliche Freischärler, Niederbrennen vieler Dörfer, Erschießen oder Verbrennen unzähliger polnischer Gefangener und Zivilisten in Scheunen bei lebendigem Leibe.

Olbricht befehligte die Division meist vom Infanterieregiment 102 aus. Dessen Stabsarzt Leutnant Hans W. notierte in seinem Kriegstagebuch auf dem Vormarsch bei Warta schon am 7. September, eine Woche nach dem Einmarsch:

    „Die toten Zivilisten, oft auch Frauen, sind schlimm anzusehen. Es ist heiß, und noch niemand hat gegessen.“ [11]

Nach der Eroberung Warschaus wurde General Friedrich Olbricht für seinen tapferen persönlichen Einsatz und seine hervorragende Führungskunst am 27. Oktober 1939 das „Ritterkreuz zum Eisernen Kreuz“ verliehen.

In einem Tagesbefehl vom 31. Oktober 1939 bedankte er sich für diese hohe Auszeichnung u.a. mit den Worten:

    Ich werde das Ritterkreuz tragen voller Dankbarkeit dafür, dass auch in entscheidungs-vollsten Stunden Führer und Truppe mir volles Vertrauen entgegenbrachten.“ [12]

Die Polen sollten den Nazis als Sklaven dienen, der Staat wurde total zerstört, sagte Hanna Radziejowska, Leiterin des Berliner Pilecki-Instituts, 2021 in einem Spiegel-Interview,

    „die Deutschen aber wissen fast nichts.“

Das Siebte Flugblatt:

»20. Juli 1944 – heute vor 80 Jahren – Claus Schenk, Graf von Stauffenberg und einige Mitverschwörer versuchten an diesem Tag Adolf Hitler zu töten und die Macht an sich zu reißen.

Glorifiziert wurde und wird er heute noch von Vielen, doch hätte er Erfolg gehabt, hätte sich der Krieg wahrscheinlich eher in die Länge gezogen, als dass er beendet worden wäre.

Die Verschwörer wollten den Krieg im Westen beenden, mitnichten jedoch im Osten und die Wiedereinführung der Monarchie und der Adelsstände mitsamt ihrer Privilegien waren das Ziel.

Wenn wir die beiden bekannten Attentatsversuche auf den Führer vergleichen, fällt auf:

Stauffenberg wollte Hitler töten, weil dieser versagte.

Georg Elsers Attentat hatte den Zweck, einen Krieg und viel Leid zu verhindern.

In einem Brief an seine Frau schilderte Stauffenberg seine Fronterfahrungen und Eindrücke aus Polen:

„Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk welches sich nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun. In Deutschland sind sie sicher gut zu brauchen, arbeitsam, willig und genügsam.“

Auch der Schwur der Attentäter beinhaltet ihre Ansicht:

„Wir bekennen uns im Geist und in der Tat zu den großen Überlieferungen unseres Volkes, die durch die Verschmelzung hellenischer und christlicher Ursprünge in germanischem Wesen das abendländische Menschentum schufen. Wir wollen eine neue Ordnung, die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt, verachten aber die Gleichheitslüge und fordern die Anerkennung der naturgegebenen Ränge. Wir wollen ein Volk, das in der Erde der Heimat verwurzelt den natürlichen Mächten nahebleibt, das im Wirken in den gegebenen Lebenskreisen sein Glück und sein Genüge findet und in freiem Stolze die niederen Triebe des Neides und der Missgunst überwindet.“

Claus Schenk Graf von Stauffenberg«

Anmerkungen und Quellen

[«1] H. v. Tettau, K. Versock, Die Geschichte der 24. Infanteriedivsison, 1956, genehmigte Lizenzausgabe für Edition DÖRFLER im NEBEL VERLAG GmbH, Eggolsheim, S. 12

[«2] Wolfgang Michalka, Deutsche Geschichte 1939–1945. Frankfurt am Main 1999, S. 165 f.

[«3] Winfried Baumgart: Zur Ansprache Hitlers vor den Führern der Wehrmacht am 22. August 1939. Eine quellenkritische Untersuchung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Band 16, 1968, Heft 2, S. 120–149; Zitate S. 133 und 145 (PDF).

[«4] academia.edu/40794332/…_Polnisches_Magazin_Dialo

[«5] Winfried Baumgart, ebenda

[«6] deutschlandfunk.de/die-verteidigung-der-feigheit-100.html (5.9.2022)

[«7] Manfred Messerschmidt, Größte Härte, Verbrechen der Wehrmacht in Polen September/Oktober 1939. Vortrag bei der gleichnamigen Ausstellung am 2. September 2005 in der Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn

[«8] lexikon-der-wehrmacht.de/Gliederungen/Infanterieregimenter/IR101-R.htm (15.07.2020)

[«9] Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg – Die Wehrmacht in Polen 1939, Fischer Taschenbuch Verlag 2006, S. 195

[«10] H. v. Tettau, K. Versock, Die Geschichte der 24. Infanteriedivsison, 1956, genehmigte Lizenzausgabe für Edition DÖRFLER im NEBEL VERLAG GmbH, Eggolsheim, S. 12

[«11] Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg – Die Wehrmacht in Polen 1939, Fischer Taschenbuch Verlag 2006, S. 124

[«12] H. v. Tettau, K. Versock, Die Geschichte der 24. Infanteriedivsison, 1956, genehmigte Lizenzausgabe für Edition DÖRFLER im NEBEL VERLAG GmbH, Eggolsheim, S. 29.

Über den Autor: Hartmut Sommerschuh lebt als Autor in Potsdam. Von November 1989 bis 2016 war er Redaktionsleiter und Redakteur der Umweltsendereihe „OZON“ im rbb-Fernsehen.


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