Der moderne Deutsche speichert seine Existenz gern in Ordnern ab. Das ist praktisch, und kenntnisreiche Leute nennen es pragmatisch. Im Ordner hat man Zugriff auf die Verlorene Generation, die Generation X, die Generation Y, die Generation Z, die Generation Golf und die Letzte Generation, der wir hiermit alles Gute wünschen. Vielleicht sollte sie sich verbünden mit der Generation der vor 1939 Geborenen. Die ist die unbedeutendste, weil sie nur noch wenige Mitglieder hat und deshalb im Wahlkampf unberücksichtigt bleiben kann. Immerhin hat sie den Spruch erfunden „Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!“ Deswegen möchte ich anregen, in dieser Generation mal eine repräsentative Umfrage zu veranstalten:
Was halten Sie davon, dass Deutschland nun dem erhöhten Risiko ausgesetzt wird, zum Kriegsschauplatz zu werden? Die deutsche Politik ist dabei, den sogenannten Kalten Krieg ziemlich heftig anzuheizen durch die Stationierung neuer Langstreckenraketen – was sagen Sie dazu?
Die Antworten wären sicher interessant, denn diese Menschen können sich noch gut erinnern, wie es sich anfühlt, die Nacht in einem Bunker zu verbringen oder unter einer Treppe, über der das Haus eingestürzt ist, wie man rennt, wenn die ganze Straße brennt, was man auf der Flucht alles erleben kann, und wie unfassbar (zeitgemäßes Modewort) es aussieht, wenn die Nachbarsfamilie mit einer Phosphorbombe in Kontakt gekommen ist – usw. Und damals hat niemand auf der ganzen Welt auf Demos protestierend gefordert, die alliierten Bomberflotten hätten bei ihren Bombardements gefälligst Rücksicht zu nehmen auf die deutsche Zivilbevölkerung und die unschuldigen Nazikinder…
Die Generation der vor 1939 Geborenen musste gleich nach der Niederlage des Nazireiches auch die Generation Rosenzüchter ertragen. Die startete in Westdeutschland mit Lebensmittelmarken und einer Währungsreform. Aber diese Währungsreform, die angeblich allen Einwohnern die gleichen Chancen ermöglichte, hatte die Schere der sozialen Ungleichheit, die wenig später zwischen Arm und Reich klaffen sollte, schon maßgeschneidert im Tornister… Und die Kirchensteuer sollte auch bleiben…
Natürlich, das Grundgesetz der westdeutschen Bundesrepublik war ein ausgezeichnetes Gesetz. Aber mit entsprechenden Mehrheiten war es schnell auch mal geändert. Die Asylrechtsgesetze von damals sind beispielsweise heute null und nichtig.
Leute mit Gedächtnis erzählten von der nach dem 1. Weltkrieg gegründete Weimarer Republik: „Die Sozialdemokraten Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann waren der Überzeugung, ohne das nationalistische autoritäre Bürgertum und ohne die kapitalistische Elite des Kaiserreiches könnten sie kein demokratisches System aufbauen…“ Nun, nach dem 2. Weltkrieg, machten die Christdemokraten den gleichen Fehler: Der Rosenzüchter aus Rhöndorf rettete dem braunen Pack den Arsch. Berührungsängste zu Leuten mit Nazivergangenheit hatte er nicht, er schätzte SS-Männer als pflichtbewusste und tapfere deutsche Ehrenmänner und hielt Willy, der im norwegischen Exil für den Widerstand gearbeitet hatte, für einen Vaterlandsverräter. Ferner gab dieser Rosen-Kanzler der Wehrmacht ein neues Heimatgefühl in der Bundeswehr und sperrte die Kommunisten ins Gefängnis. Das brachte den Aufschwung.
Nach der Generation Rosenzüchter besetzte die Generation 67-98 die Belle Etage, und die Kräfte des modernen Lebens entwickelten sich: Technik, Industrie, Kapitalismus, Wissenschaft, Geschäftsgeist – das war eine materielle Macht, die das europäische Gleichgewicht oft genug erschütterte. Zwei Männer ragten allerdings positiv heraus aus dieser Generation: Willy wollte mehr Demokratie wagen, er hatte die Vision einer anderen, neuen Ostpolitik. Leider stand Kanzler Willy auch für Berufsverbote und Radikalenerlass, hatte aber den Mut, seinen Irrtum später einzugestehen. Und Gustav: Ein Agent für bürgerliches Engagement, Zivilcourage und Mitbestimmung sowie die Aussöhnung mit den Nachbarstaaten. Gustav, DER Bundespräsident, gehörte zu den Unterzeichnern des sogenannten „Stuttgarter Schuldbekenntnisses“… Aber sonst? Ex-Nazi-Kanzler, Ex-Nazi-Bundespräsidenten. Notstandsgesetze mit Polizeigewalt durchgeprügelt, Anti-Atomkraft-Schlachten, Startbahn-West-Kämpfe in Frankfurt – in „Bild“ kann man alles nachlesen. Für den Kanzler aus der Schnupftabakdose, diesen in jeder Rauchverbotszone privilegierten Raucher, der ohne Erfolg schon Leningrad belagert hatte, war die Staatsraison wesentlich wichtiger als das Grundgesetz, der tote Schleyer kann’s bezeugen. Kernkraftwerke waren sein Pläsier. Und das Attentat auf das Oktoberfest in München konnte seine politische Haltung auch nicht erschüttern: Das war das Verbrechen eines Einzeltäters. Staatsdoktrin: von rechts droht keine Gefahr, bekämpfen muss man vor allem die Linken, obwohl NPD und andere Neonazigruppen schon kräftig am Erstarken waren. Aber man musste erstmals dem Russen Paroli bieten und die Aufrüstung vorantreiben. Herr Schmidt ließ Pershing – Raketen stationieren. Kalter Krieg, ganz heiß. Kündigte sich da schon der Klimawandel an? Im Herbst 1981 gingen etwa eineinhalb Millionen Menschen gegen die Aufrüstung auf die Straße. Damals waren die Grünen fast zwei Jahre alt, und sie schritten in vorderster Front der Friedensbewegung. Heute bezeichnet einer ihrer Chefs die Stationierung der amerikanischen Langstreckenwaffen als notwendig, und man fragt sich: Warum ist sein grüner Verein nicht längst in den Seeheimer Kreis der SPD eingetreten? Da könnte man dann eine Koalition der Nutzlosen mit den Überflüssigen schmieden und endlich den Klimawandel besiegen…
Der SPD-Kanzler mit der Helgoländer Lotsenmütze rollte den roten Teppich aus für Branarbas Bräsig (Helmut Kohl). Den bezeichnete man dann als den Kanzler der Einheit, obwohl er dafür kaum etwas getan hatte. Aber er kannte den Kreml-Chef und dessen Gattin. Begeisterte Gorbi – Gorbi-Rufe hörte man, als der Anschluss der DDR an die BRD vollzogen wurde. Als Gorbatschow dann viel später die Rückkehr der Krim zu Russland begrüßte und die Ost-Erweiterung der NATO in Interviews verurteilte, war Liebling Gorbi plötzlich ein Putin-Versteher, also ein ganz übler Bösewicht. Und als dieser Mann starb, der maßgebend die Wiedervereinigung ermöglicht hatte, schickte die deutsche Bundesregierung noch nicht einmal einen offiziellen Vertreter zu seiner Beerdigung. Die neue woke Generation wusste eben nicht, was sich gehört, und Kanzler Bramarbas Bräsig war 2022 auch schon tot, sonst hätte er der Bestattung vielleicht beigewohnt…
Die Wiedervereinigung verursachte eine gewaltige Umvolkung. Westliche Raffkes trafen auf östliche Wendehälse. Das Auto war der Fetisch der geeinten Nation, Mallorca wurde dem Vierten Reich einverleibt.
Das Volk in den „neuen Ländern“ musste nicht mehr im HO anstehen, und aus Dankbarkeit wählt es nun zu großen Teilen seine Neo-Nazis. Die nächste Umvolkung kann eigentlich nur der Wiederanschluss Österreichs sein…
Am Ende des Jahrtausends kam eine neue Generation an die Fleischtöpfe. Sie startete siegreich mit der Zerschlagung Jugoslawiens. Etwas später versuchte man, die deutsche Freiheit am Hindukusch zu verteidigen, in Afghanistan, das war aber ein Desaster. Trotzdem: Westliche Werte, Menschlichkeit und Friedensliebe, durchdrungen von edlen Gefühlen, dominierten die Statements der Politik, humanistische Fiktionen wurden „in den Raum gestellt“ und bescherten den Armen und Obdachlosen immerhin Hartz 4. Die Schere der sozialen Ungleichheit klaffte ziemlich nah am Anschlag: Der Geldadel räumte ab, das Prekariat wurschtelte sich so durch, die Demokratie segnete ab. Korruption und Steuerbetrug hatten recht erfreuliche Umsätze. Krankenhäuser wurden privatisiert und mussten nicht mehr unbedingt heilen, sondern sich rechnen. Die Deutsche Bahn entließ rund 100 000 Beschäftigte, um den Service zu verbessern, und die zahllosen Verspätungen wurden damit ausgeglichen, dass die Züge gelegentlich etwas früher losfuhren. Das dürfen die – es steht im Kleingedruckten. Und Stuttgart 21 gab der DB mächtig Auftrieb, der Provinzbahnhof wird nun teurer als der Petersdom in Rom. Nebenbei wurde Die Deutsche Post noch zu DHL umgewandelt – seitdem kommt es vor, dass auf dem Postamt Briefmarken ausverkauft sind…
Die Bildungspolitik produzierte in den Sprach- und Literaturwissenschaften, in der Pädagogik, den Geschichtswissenschaften, der Ethnologie sowie in Kunst-, Theater- und Musikwissenschaft geisteswissenschaftliche Hohlräume von nie gesehenen Ausmaßen. Immerhin, eine Physikerin wurde Frau Kanzlerin. Flüchtlinge wurden aufgenommen und versorgt, aber bald war das Land völlig überfüllt. Pegida – „Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ – eine Islam- und fremdenfeindliche, völkische, rassistische und rechtsextreme Organisation, verstopfte Gehirne und Straßen. Quedlinburg demonstrierte maulend: Dort wohnten fünf Syrer! Wenn in einer Kleinstadt mal ein Flüchtling zu viel war, wurde er von den Eingeborenen kurzerhand totgeschlagen. Brennende Asylantenheime hatten Hochkonjunktur, der nationalsozialistische Untergrund – NSU – veranstaltete ungestört eine 10-jährige Mordserie, weil die Staatsschutzbehörden in die andere Richtung schauten…
Die EU musste helfen: Fortan ließ Europa die Flüchtlinge im Mittelmeer ersaufen. Die EU-Kommissionschefin, old School im pinkfarbenen Hosenanzug, bearbeitet wie eine Staubsaugervertreterin den außereuropäischen Mittelmeerraum – in der Handtasche: Honigsüße Komplimente und reichlich EU-Milliarden. Es geht darum, die totalitären Machthaber zu überreden, den gemeinen Job zu übernehmen, und wenn’s gar nicht anders geht, die Flüchtlinge eben ohne Wasser in der Wüste auszusetzen.
Weil alles immer teurer wurde, versuchte man auch immer wieder, die Kulturpolitik einzusparen. So erblühte die Musicalindustrie. Außerdem feierte man Festivals und andere geile Events. Allerdings hat die Bayerische Staatsregierung beschlossen, das Kiffen auf Volksfesten und in Biergärten wegen der Kinder zu verbieten. Koma-Saufen ist aber Gottseidank weiterhin erlaubt. Es sei an dieser Stelle angemerkt: Wenigstens hat die Hansestadt HH mit Carsten Brosda einen herausragenden Kultursenator, der die Freiheit der Künste sichern will, bei dem aber Projekte mit antisemitischen, rassistischen und anderen menschenfeindlichen Inhalten keine Chance erhalten…
Wir wollen voller Dankbarkeit auch erwähnen: In Deutschland herrscht seit bald 80 Jahren Friede, oder besser: Auf deutschem Boden wurde kein Krieg geführt, außer dem obligatorischen Kalten… Aber um nun wenigstens ein bisschen kriegslüsterne Stimmung zu entfachen und die Hoffnung, von deutschem Boden könne doch noch mal ein Krieg ausgehen, wenn auch nur ein ganz kurzer, ein Blitzkrieg gewissermaßen, wurde die Kapelle im Turm der Potsdamer Garnisonkirche wiedereröffnet. In der Garnisonkirche wurde im März 1933 der Pakt von Faschisten und Konservativen öffentlich besiegelt. Potsdam ist heute wieder ein Pilgerziel für Reaktionäre, und erst kürzlich gründete eine kleine Männergruppe hier einen preußischen Traditionsverein. Der wird sich gewiss freuen:
In Deutschland werden „Tomahawk“ stationiert – diese Monster haben ein Strahltriebwerk und können in geringer Höhe bis zum Ural fliegen, sie können auch nuklear bewaffnet werden, haben Navigationsfähigkeiten und eine hohe Zielgenauigkeit und können recht potente Sprengköpfe transportieren, allemal wirkungsvoller als die der Hiroshima-Bombe. Außerdem stellt man uns noch Boden-Luft Raketen vom Typ SM-6 mit einer Reichweite von mehreren Tausend Kilometern vor die Tür sowie eine Hyperschallwaffe mit mehr als fünffacher Schallgeschwindigkeit. Die Dinger lassen nur arg wenig Reaktionszeit für die Abwehr… Das haben die USA und Deutschland schon 2021 vertraglich vereinbart, ohne laut darüber zu reden. Der Kanzler, der Vergesslichkeit zugibt, obwohl er in Wirklichkeit nichts, aber auch gar nichts vergisst, Olaf der vermeintlich Vergessliche erklärte, dass die Stationierung eine „sehr gute Entscheidung“ und lange vorbereitet worden sei. Eine politische oder sogar öffentliche Debatte gab es nicht. Ich denke, der Kanzler, dieser umtriebige Strippenzieher, wollte ein Rollback verhindern, nur ja keine neue Friedensbewegung wie damals – er meinte wohl, im Schatten des Ukrainekrieges könne er die Bevölkerung vor vollendete Tatsachen stellen… Dass es wegen dieser Stationierungs-Entscheidung bislang keinen Aufstand gegeben hat, lässt uns ahnen, wie weit sich die Kriegsstimmung in Deutschland schon durchgesetzt hat. Man betrachte nur den SA-Gedächtnishaarschnitt vieler wehrfähiger deutscher Jungmänner…
Frage man also mal die Generation der vor 1939 Geborenen. Ich prognostiziere, deren Angehörige werden sagen: „Ein bedrohter Atomstaat wie Russland könnte sich beizeiten zu einem Erstschlag provoziert fühlen. Und dann kriegen wir, wie von den USA gewollt und durch Dokumente belegt, Deutschland als Schlachtfeld der Vorwärtsverteidigung der USA. Das ist eine derbe Sauerei! Außerdem eine Demütigung der deutschen Souveränität. Ich denke, durch die Geheimdienstveröffentlichung (hahaha) eines geplanten Attentats auf den Rheinmetallobergockel soll der ganze Schweinkram, der da so passiert, unter der Decke gehalten werden. Das nenne ich „Vorsehung!“
Die Leistungsbilanz dieser Generation, die in den 50er und 60er Jahren in den Wohlstand hineingeboren worden ist, und deren Angehörige sich zur Zeit in politischen und wirtschaftlichen Machtpositionen befinden, ist niederschmetternd. Sie lässt fast jede Möglichkeit aus, die AfD-Neonazis daran zu hindern, auch an die Fleischtöpfe zu gelangen. Und die öffentlich-rechtlichen Medien leisten dem System kräftig Schützenhilfe. Das Erste wird von der Quote geleitet, das Zweite von der CDU. Manchmal auch umgekehrt. Mit beiden sieht man eher schlecht.
Wie kann man diese Generation benennen? Generation Ego? Generation Opportunismus? Generation Heuchler? Generation Dumm? Generation Inkompetenz? Passt alles. Ich nenne sie: Generation S. Generation Scheiße. Vorletzte Generation: Übernehmen Sie! Ordnen Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten das Land zwischen 1 und 0.
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